– Der Steinberg –
von der Sonnenkultstätte zur Sage –

 

Auszug aus „Von Himmel zu Erde im Mansfelder Land“
von Georg Kutzke (Mansfelder Heimatkalender 1939)

 

Frau Holle wandert auch im Lande herum, sie erscheint als Symbol der Sonne ja überall einmal, aber auch dabei erwartet sie gute Tat von ihren Leuten. Man kennt die Sage, wie sie auf dem Steinberg bei Erdeborn dem Schäfer begegnet, dessen Herzensgüte sie prüfte, indem sie ihn um ein Stück Brot anging. Als der Schäfer ihr das Brot verweigerte verzauberte sie ihn mitsamt der Herde Schafe und den beiden Hunden in einen Haufen Steine. Gustav Winkler gibt in seiner Sagensammlung 1925 den Hergang anschaulich bekannt. Hermann Größler, der diese Sage unter Bezug auf ältere Erzähler berichtet, teilt anno 1896 in „Altheilige Steine in der Provinz Sachsen“ mit, dass die Steine nagelfähig und also auch benagelt gewesen seien. Demnach ist mit diesen sogen. löchrigen Steinen noch in jüngster Zeit der Kult des Nagelns, d.h. des Anrufens eines Gottesurteiles, betrieben worden. Es handelt sich um Kohlesandsteine von der Form aufgequollener Kuchenteige, quarzige Kiesel von gelbbrauner Farbe, die bis zur Größe von Stubentüren vorkommen und mit Poren versehen sind, in die man bei Gewitterneigung Hufnägel, die sich dem Porengang anpassten, einschlagen konnte. Von den Steinen auf dem Steinberg ist kaum viel zu sehen, weil sie bei Gelegenheit der Feldseparation vor bald hundert Jahren schon zerschlagen und zum Wegebau benutzt worden sind. Karl Wunderlich bemerkt hierzu in „Mein Mansfeld“ im Nothing 1936: „Und man möchte in den leider so ehrfurchtslos behandelten Steinfunden eine alte Sonnenbeobachtungsstätte vermuten.“ Ich glaube sogar, man muß das. Frau Holle übt nicht nur Gericht an dem hartherzigen Schäfer und eröffnet damit die doch wahrscheinlich lange Reihe der Gottesurteile, die unter Beanspruchung der Nagelung hier angerufen worden sind. Der nahebei gelegene Höllenberg weist hierzu auf nicht ganz angenehme Perspektiven in Bezug auf ein altes Hüpfspiel, das nicht nur Himmel und Erde, sondern Himmel und Hölle heißt. So: Engelhardt-Artern.

Frau Holle zeigt sich als Frau Sonne in allen deutschen Sonnenkultstätten, abgewandelt in alle Stadien der Weiblichkeit. Ihr erscheinen auf dem Steinberg kann nicht als Laune eines Sagendichters, sondern nur als landschaftliche Bedingtheit gedeutet werden.

Der Steinberg ist die am nächsten an den Salzigen See von Westen her aufgestellte Höhe des Erdeborner Mühlenberges, die man vom gesamten Seeufer und seinen zugehörigen Höhen einwandfrei erkennt. Mir hat vor dreißig Jahren der Schäfer aus Wansleben erzählt, dass man früher seinen versteinerten Kollegen noch bis an die Wansleber Pappeln habe sehen können. Demnach müsste jener Steinbergsschäfer eine etwas unwahrscheinliche Größe gehabt haben. Seine Größe, die immerhin beträchtlich gewesen sein wird, liegt für uns Heutige in seiner inneren Bedeutung als einer von Frau Holle mit der Zauberrute berührten mythischen Figur! Die Sonne berührte den Stein, hier liegt das Sonnenwunder klar zutage, hier finden wir angezeigt, dass der Stein unmittelbare Beziehung zur Sonne hatte. Wenn man die Sage historisch liest, dann wurde die Erstarrung infolge der Sonnenberührung herbeigeführt, d. h. die Steine lagen in einem starren Verhältnis zum Sonnengang, ihr Lage war durch die, wie die Sage berichtet, nacheinander erfolgende Berührung mit der Sonnenrute bestimmt. Werner Müller behandelt diese Dinge grundlegend in seinem Buche „Kreis und Kreuz“, Deutsches Ahnenerbe 1938. Auf seine Untersuchungen zur sakralen Siedlung gestützt, darf die oben angezogenen Wunderlichsche Vermutung als hinreichend glaubhaft angesprochen werden. Es möchte sein, dass die Bezeichnung der Steine als Schafherde neueren Datums ist, als die Steine vielleicht schon durch mittelalterlichen Nagelunfug aus ihrer ursprünglichen Regelmäßigkeit entfernt und einer Schafherde gleich durcheinandergeraten waren. Möglich auch, dass die volkstümliche Deutung einer ältesten Benennung entspricht, wie ja unsere Vorfahren für alle Umstände und Vorgänge plastische Benennungen erfanden. Kein Acker- oder Waldstück ohne drastische oder drollige Benennung, kein Gestirn, keine Jahreszeit. Einer Schafherde gleich sind die Steine auch einmal auf den Berg getrieben, d. h. angerollt oder gekantet worden. Es ist ja unwahrscheinlich, dass man eine solche Brockensammlung vorgefunden hat, viel glaubhafter, dass man sie wie alle Steinsetzungen einer vier- bis fünftausendjährigen Vergangenheit mühsam aus der weiten Flur zusammengeschleppt hat. Und wenn man wissen will, wie man den für die Erlösung der grünen Jungfer vom Hausberg nötigen Johannistag festgestellt haben mag, dann wende man sich an den Schäferstein von Erdeborn, der das mit Hilfe seiner beiden Hunde genau bestimmte. Diese Hunde waren entweder in nächster Nähe des Schäfers oder jenseits der Herde, die sie ja zu bewachen hatten. Also standen die Steine, die Schafe nämlich, entweder als sechs oder, wenn es je eine Herde gewesen sein soll, als zwölf oder sechszehn (vgl. Reuter) im weiten Kreise um den Schäferstein als Mittelpunkt herum. Vom Sonnenaufgang am Tage Sommersonnenwende, also von Nordosten her berührte die Rute der Frau Holle, d. i. der Sonnenstrahl, nacheinander, jahreszeitenmäßig flacher und im Rundgang enger werdend, Stein um Stein, der Schäfer aber beobachtete die Sonnenrichtung, er markierte sie starr mit der Regelhaftigkeit eines Uhrenzifferblattes. Man lese so: Vom Schäfer aus stellte der Hohepriester das Horoskop, er benutzte zur Sicherung, zum genauen Visieren die Hunde, die als weitest vorgeschobene Steine vielleicht in Richtung beider Sonnenwenden „meldeten“.

Als ganz persönliche Auffassung der Beziehungen zwischen Himmel und Erde bei kultischen Einrichtungen unserer Altvorderen leiste ich mir die Einbildung, dass, wie schon zum Drachenkampfplatz von Mansfeld bemerkt, diese Altvorderen sich nicht damit begnügt haben dürften, dem hohenpriesterlichen Astronomen bei der Anpeilung des nordöstlichen Erscheinens der Sonne hochachtungsvoll zuzuschauen, sondern sie sich in Gemeinschaftsleistung den kalenderwichtigen Vorgang werden vorgetanzt haben. Man kennt die Spiralberge, die sogen. Trojaburgen, von denen eine ja in Steigra an der Unstrut erhalten ist; man ist überzeugt, seit Henschel und Krause, dass es Tanzberge, also Stätten kultischer Tänze und Spiele waren. Ich glaube, dass man schon in früher Bronzezeit Felderumritte mit symbolischer Gerstensaat zur Bestätigung der Gemarkungsgrenze und Drachenkämpfe veranstaltet haben wird, wie man ja heute noch den Erbsbär treibt, und ich bin auch überzeugt, dass unser Hausberg einst die Stätte all der geheimnisvollen Schaustücke, wie unser heutiges Oberammergau etwa, gewesen ist, bei denen sich das ganze Volk vergnügte. Welch eine feierliche Vorstellung: Die Örtlichkeit des Schäferringes von Erdeborn war zur Zeit der Sommersonnenwende rundum mit Girlanden, Grünhecken und holzgeschnitzten Götterbildern geschmückt, während eine vielköpfige Menschenmenge darum, wie in Questenberg eine ganze Nacht lang, versammelt war. Und dann kam vom Höllenberge her, den sie entzaubert hatte, eine Priesterin als weiße Sonnenfrau und rührte, wie es die Sage berichtet, mit der Lebensrute an alle Steine, um ihr Opfer, das heilige Brot, zu fordern, und um dann in den See zu pilgern, in dem nach Stunden ohnedies die Sonne glänzt.

Die Kultsteine von Erdeborn sind zerstört, aber die in den letzten Jahren gesammelten und statistisch erfassten heiligen Steine unserer Altvorderen sind so zahlreich, dass wir berechtigt sind, das Denkmal der Sonnenbestimmung aus der Kenntnis der anderen Vorkommen und aus der Sage heraus zu rekonstruieren. Die Örtlichkeit wird bei richtiger Einvisierung – man nennt das heute Ortung – zum geistigen Beleg, und die Sage als geistiger Altertumsspiegel wird zum Denkmal. So schließt sich, gesehen an einigen ganz vereinzelten Beispielen, in der Fülle mansfeldischer Kultstätten der Kreis von Himmel und Erde. Und so wage ich abschließend den Versuch einer Rekonstruktion des Erdeborner Sonnenplatzes, nicht etwa als letztes Ergebnis, sondern als Einladung zur weiteren Prüfung des hypothetisch gewonnenen Befundes.

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